Warum ich den Militärdienst verweigert habe – und es bis heute nicht bereue
- Christian Urech
- 28. Juli
- 5 Min. Lesezeit
15.11.: Warum ich den Militärdienst verweigert habe? Diese Entscheidung wuchs nicht aus einem einzigen Grund, sondern aus einem Knäuel von Zweifeln, Erfahrungen und Überzeugungen. Schon als Jugendlicher war mir klar: Das Militär ist kein neutraler Apparat. Es ist strukturell auf Gewalt angelegt, potenziell auf Krieg. Man lernt dort, Menschen zu töten. Punkt. Und sobald der Krieg beginnt, wird aus dem Verbot zu töten eine Pflicht. Das habe ich nie verstanden – und nie akzeptiert.
Man sagt, die Armee diene der Verteidigung. Doch in der Realität verschwimmen die Grenzen. Angreifer nennen sich Verteidiger, der «Präventivschlag» wird zur Legitimation, der Krieg beginnt mit einem semantischen Trick. Und wer im Ernstfall kämpft, kämpft nicht für ein Ideal, sondern ums Überleben – gegen einen Feind, den er nicht kennt, der ihm oft ähnlicher ist als seine Vorgesetzten.
Mir war diese Logik fremd. Ich konnte nicht einsehen, warum ich bereit sein sollte, auf einen Menschen zu schießen, nur weil er aus einem anderen Land stammt. In zivilen Zeiten vielleicht ein Freund – im Krieg ein Ziel. Das ist absurd. Dass der Einzelne im Krieg zum Funktionsträger degradiert wird, zur Nummer, zum Befehlsempfänger, hat mich abgestoßen. Das Roboterhafte, das Maschinenhafte hierarchischer Systeme – sei es im Militär, in der Wirtschaft oder in der Politik – macht mich misstrauisch.
Man fragte mich damals, ob ich kein Vertrauen in die militärische Führung hätte. Nein, hatte ich nicht. Ich habe auch nur begrenztes Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen – auch wenn ich weiß, dass alle anderen Regierungsformen noch fehleranfälliger sind. Aber selbst eine Demokratie bleibt brüchig, wenn große Teile der Bevölkerung ausgeschlossen sind – sei es aus Gründen des Alters, der Herkunft oder, wie noch bis vor Kurzem, des Geschlechts.
Die Schweiz ist in vielem demokratisch, aber Armee und Wirtschaft sind nach dem Führerprinzip organisiert. Der Einzelne gehorcht, denkt nicht, darf es nicht, handelt im Auftrag. Das mag funktionieren – aber es hat mit Verantwortung nichts zu tun. Wer auf Befehl tötet, bleibt verantwortlich. Auch wenn es der General befiehlt. Auch wenn es im Namen der Nation geschieht.
Der Begriff «Nation» bedeutet mir wenig. Ich fühle mich nicht automatisch verbunden mit Menschen, nur weil sie denselben Pass haben. Und ich kann niemanden erschießen, bloß weil er einen anderen Pass hat. Das wurde mir auf meiner ersten großen Asienreise klar. Ich verstand die Menschen dort oft nicht, ihre Mentalität war mir fremd – aber sie waren mir nicht feindlich gesinnt, im Gegenteil. Sie waren oft sehr viel gastfreundlicher und hilfsbereiter, als Schweizerinnen und Schweizer es im Durchschnitt sind. Das Fremde war kein Feind. Die Menschen waren schön. Erst Macht und Geld machen sie hässlich. Überall.
Wir sitzen auf einem Pulverfass. Morgen schon kann alles zu Ende sein. Unsere wahren Feinde sind nicht andere Völker, sondern die Machtverblendeten aller Nationen – jene, die andere für ihre Interessen als Kanonenfutter in den Tod schicken. Ich will ihnen nicht dienen. Ich will kein Rädchen in ihrer Maschine sein.
All das habe ich dem Militärrichter nicht gesagt. Er hätte es nicht verstanden. Und seine Reaktion hätte mir recht gegeben. Ich sagte nur, dass ich Gewalt hasse – körperliche, psychische, strukturelle Gewalt. Das war nicht gelogen. Und dass ich niemanden töten will. Das war die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist: Ich fürchte die Gewalt, auch in mir. Gerade deshalb halte ich es für gefährlich, sie zu organisieren. Eine Schlägerei ist mir lieber als ein Krieg. Wer mit bloßen Händen tötet, schleppt seine Tat mit sich herum. Wer auf Knopfdruck Bomben abwirft, kann sich herausreden. Der Horror wird entkoppelt vom Bewusstsein.
Ich glaube nicht an das Gute und das Böse als fixe Größen. Ich bin nicht der liebe Gott. Ich weiß nicht, was mein «Gewissen» ist. Aber ich weiß: Mein Lebensinstinkt sträubt sich gegen den Dienst an der Waffe.
Heute, im Mai 2025, frage ich mich, ob ich noch der Pazifist bin, der ich damals war – oder ob ich überhaupt je einer war. Gerade bin ich vom Evangelischen Kirchentag in Hannover zurück, wo ich als Mitglied der Leserinitiative Publik-Forum (LIP) mitgewirkt habe. Wir organisierten einen Thementag, unter anderem mit Margot Käßmann, der ehemaligen EKD-Vorsitzenden. Sie ist überzeugte christliche Pazifistin und lehnt jede Waffenlieferung ab – auch an die Ukraine. Ich schätze sie sehr. Nicht, weil sie perfekt ist, sondern gerade, weil sie menschlich geblieben ist. Ihre Schwächen machen sie glaubwürdig. Und doch zweifle ich: Hat sie recht?
Darf man sich nicht – notfalls auch mit Gewalt – gegen Aggressoren wehren? Dürfen wir die Angegriffenen nicht unterstützen, auch mit Waffen? Was, wenn die Alliierten Hitler nicht besiegt hätten? Rechtfertigt Gewalt nicht manchmal ein gewisses Maß an Gegengewalt?
Würde, wäre ich heute ein junger Mensch, den Militärdienst immer noch verweigern? (Ich weiss, die Frage stellt sich rein theoretisch, heute kann man zwischen Militär – und Zivildienst wählen. Aber in Deutschland wird gerade wieder über die Wiedereinführung der Wehrpflicht debattiert.) Ich weiß es nicht. Vielleicht würde ich, im Fall des Falls, einfach in Schockstarre verfallen. Ich bin kein Krieger. Ich bin ein Angsthase. Aber ich bin mir sicher: Wenn ich ein junger Ukrainer oder Israeli wäre, ich würde dem Einberufungsbefehl wohl nicht folgen. Ich würde das Weite suchen. Oder, im Notfall, am Feind vorbeischießen. Und ich hätte keinesfalls Lust, als Kanonenfutter mein Leben wegzuwerfen.
Ich weiss, das lässt sich als Bewohner der in jüngerer Vergangenheit vom Krieg stets verschonter Schweiz leicht sagen. Der Philosoph Richard David Precht – gefragt, ob die Deutschen im Kriegsfall bereit wären, ihre Kinder in die Armee zu schicken – antwortete: Nein, weil ich mir nicht vorstellen könnte, dass die Kinder einer durchschnittlichen deutschen Familie in diesen Krieg gehen würden. Was zwar keine Antwort auf die Frage ist, aber ich schweife ab.
Ich bereue keine Sekunde, dass ich den Militärdienst verweigert habe. Ich bin kein Pazifist. Ich bin ein Deserteur. Nicht mutig, nicht gläubig, nicht fügsam genug, um mich militärischer Führung zu unterwerfen – und gerade deshalb mutig, gläubig und egoistisch genug, um mich ihr zu entziehen.
Ein Soldat darf nur eines: gehorchen. Das heisst: Er hat unbedingt zu funktionieren, unabhängig von seiner eigenen Befindlichkeit. Und das ist das Gefährlichste überhaupt.
Veteranen, die es geschafft haben, lebend aus einem Krieg herauszukommen, sind fast alle psychische Fracks. Davon sind natürlich auch ihre Familien betroffen. Krieg: Wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird und immer weitere Kreise zieht. Krieg; im schlimmsten Fall das Ende der Menschheit.
Gestern habe ich wieder einmal eine Dokumentation über den Vietnamkrieg gesehen – sechzig Jahre nach seinem Ende. Ich war fassungslos angesichts der Lügen, der Zynismen, der Grausamkeiten beider Seiten. Millionen Tote. Wofür?
Kriege sind pervers. Und sie kennen keine Sieger. Ich verweigere noch immer – nicht aus Prinzip, sondern aus Überzeugung. Und aus Instinkt. Auch entgegen aller strategischen Vernunft.
Stimme vollkommen zu, guter Text.
Liebe Grüsse
Dänu Costantino