Eine Nacht im November
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  • AutorenbildChristian Urech

Eine Nacht im November


Neun Monate dauerte der Prozess gegen die Mitbeteiligten der Terranschläge vom 13. November 2015 in Paris, und Emmanuel Carrère, einer derwichtigsten zeitgenössischen Autoren Frankreichs, war Tag für Tag mit dabei. V13 lautet der Titel der Gerichtsreportage, die dabei entstanden ist – und V13 (für Vendredi treize) lautete auch der Codname für den Prozess, der von September 2021 bis Juni 2022 dauerte. Auf der Anklagebank sassen nicht die «eigentlichen» Terroristen, die geschossen und sich in die Luft gejagt hatten – die waren alle bis auf einen tot –, sondern 14 mehr oder weniger bedeutende Helfershelfer, Zuträger oder sonstwie Mitbeteiligte. Neben den Angeklagten waren 1800 Nebenkläger:innen und 350 Anält:Innen am Prozess beteiligt, der einen Aktenberg von 53 Metern abzutragen hatte.

Am 13. November 2015 fanden die schlimmsten Terroranschläge statt, die Frankreich je erlebt hat: In der Konzerthalle Bataclan, auf Caféterrassen im Osten der Stadt und vor dem Stade de France wurden 130 Menschen in den Tod gerissen und viele anderen nachhaltig traumatisiert: die Überlebenden, die das Massaker mitansehen mussten und Stunden voller Todesangst durchlitten, und die Angehörigen, die ihre Söhne, Töchter, Geschwister und Freund:innen verloren.

Das Buch ist wahrlich keine leichte Kost, aber Carrère trifft auch auch in diesem Buch in jeder Hinsicht den richtigen Ton, um die Akteure zu beschreiben, das Grauen, unverhoffte Menschlichkeit und die Maschinerie der Rechtssprechung. Er versucht gar nicht erst, Antworten auf Fragen zu finden, auf die es keine Antworten gibt. Stattdessen verlegt er sich in den wöchtenlichen Kolumnen, aus denen das Buch entstanden ist, aufs Zuhören und Beobachten. Das gilt auch für seinen Umgang mit den Angeklagten: Nüchtern und im nötigen Umfang skizziert Carrére sie als persektivlose Männer mit einem Hang zur Kriminalität, deren faschistische Ideologien austauschbar scheinen. Besonders die akribische Schilderung der Tatnacht im Bataclan ist manchmal kaum auszuhalten. Ein besonders schauerliches Detail ist die Tatsache, dass die Täter ihre wahllose Abschlachterei bei grellem Saallicht ausführten, lachend und die eigene Grausamkeit offenbar geniessend.

Carrère schafft es auf beeindruckende Weise, sowohl die Opfer in ihrer Individualität als auch die Terroristen in den Zusammenhängen und Entstehungsgründen des Islamismus zu fassen. Nicht eine Sekunde versucht er zu verschleiern, dass die monatelange Beschäftigung mit dem Fall, die Beobachtung der Verhandlung und die Urteilsverkündung auch bei ihm tiefen Eindruck hinterlassen haben. Die Lektüre des Buchs ist unbedingt zu empfehlen.

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