Der Widersacher
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  • AutorenbildChristian Urech

Der Widersacher


Vorbemerkung: Ich habe mir vorgenommen, hier zukünftig sehr subjektive Besprechungen meiner jeweiligen Lektüren zu veröffentlichen. Dies auch deshalb, weil Lesen gewissermassen die Kehrseite des Schreibens ist und dieses von jenem stark geprägt und beeinflusst ist.


Beginnen möchte ich mit dem Buch, das ich soeben zuende gelesen habe. Es ist kein neues Buch, es ist 1999 erschienen, also vor fast 25 Jahren. Es ist das zweite Buch von Carrière, das ich gelesen habe; das erste mit dem Titel «Alles ist wahr» handelte von der Tsunami-Katastrophe am 26. Dezember 2004 und hat mich ebenso fasziniert wie dieses.


Mit dem «Widersacher» fand Carrière seine literarische Ausdrucksform, die er seither beibehalten hat: eine Mischung aus Reportage und Roman, in die der Autor als zusätzliche Dimension seine subjektive Sicht einbringt und sie infolgedessen in Ich-Fom verfasst. Dies begründet er damit, dass er als Schriftsteller nicht «objektiv» über Geschehnisse berichten könne, sondern seine subjektive Betrachtungsweise stets mit einfliesse. Natürlich orientiert er sich an den Fakten, aber ist als Reptorter auch Mitbeteiligter und sogar Mitbetroffener, er stellt den Beteiligten Fragen, setzt sie in Bezug zu sich und seinem eigenen Erleben; so zu tun, als betrachte er alles von aussen und als Unbeteiligter, wäre unwahr und verfälschend, vor allem, wenn es sich um so krasse Themen handelt wie jenen, denen sich Carrière annimmt. Inspiriert wurde Carrière ursprünglich von Tuman Capotes «Tatsachenroman» «In Cold blood», einem Buch, das ich ebenfalls für herausragend in der Weltliteratur halte. Allerdings hat Capote sein Buch in der 3. Person verfasst und sich so gewissermassen aus der Geschichte herausgeschrieben, wodurch dem Buch eine «Wirklichkeitsdimension» fehlt und wodurch Capote dieser Roman auf persönliche Ebene (fast) zum Verhängnis wurde (>Filmtipp: «Capote», das Spielfilmdebüt des US-amerikanischen Regisseurs Bennett Miller aus dem Jahr 2005).


Worum geht es? Der Klappentext: «Jean-Claude Romand scheint sein Leben im Griff zu haben. Nachbarn und Bekannte schätzen den erfolgreichen Arzt, seine Bescheidenheit und Intelligenz. Doch plötzlich ermordet er seine Frau und seine beiden kleinen Kinder, seine Eltern und deren Hund. Der Versuch, seine Geliebte und sich selbst zu töten, misslingt, möglicherweise gewollt. Die Ermittlungen der Polizei lassen innerhalb von wenigen Stunden die äussere Fassade einstürzen, dahinter gähnt Leere: Romands Leben ist seit 17 Jahren auf Lügen und Betrug gebaut. Seine Forscherstelle bei der WHO, Geschäftsreisen, Konferenzen mit hochrangigen Kollegen all das hatte es nie gegeben. Und niemand hatte je Verdacht geschöpft. Die Nachricht geht durch die Presse und veranlasst Carrère zu seinem ersten Tatsachenroman. Doch nicht die Fakten ziehen ihn in den Bann, sondern die dunklen Triebkräfte dahinter, der Widersacher. Er schreibt Romand, trifft ihn, wohnt seinem Prozess bei, befragt ehemalige Freunde, versucht zu verstehen. Mit einem schonungslosen Blick für die Abgründe unserer Psyche und die Rolle des Sprechens und Schweigens zeigt Emmanuel Carrère die Zerbrechlichkeit unserer sozialen Maske in einer direkten, rohen Sprache, die seine eigene Fassungslosigkeit spürbar macht und von Claudia Hamm für die Neuausgabe kongenial ins Deutsche übertragen wurde. »


Zitat aus dem Gespräch zwischen Emmanuel Carrère und Claudia Hamm :

CH: Das heisst, jede persönliche Wahrheit – von der du oft ausgehend von der Geschichte eines anderen sprichst – enthält eine allgemeine Wahrheit, die vom Leser identifiziert werden kann, und genau deshalb identifiziert er sich.

EC: Diese Wahrheit wurde mal auf eine ganz gossartige Weise fomuliert. In einer Geschichte von André Malraux. Er erzählt, er habe irgendwann einmal einen Pfarrer getroffen, der als grosser Beichtvater bekannt war. Und Malraux war sehr interessiert an ihm, denn er dachte sich: Da ist einer, der so viele hat beichten hören – was man auch von einem Psychoanalytiker sagen könnte, aber in dem Fall war es ein Pfarrer. Und Malraux sagt zu ihm: «Was haben Sie über den Menschen gelernt?» Und der Parrer antwortet: «Ich habe zwei Dinge gelegt. Dass die Leute viel unglücklicher sind, als man glaubt, und dass es keine Erwachsenen gibt.» Ich finde das überwältigend. Du siehst, ich weine fast. Ich finde, es wurde selten so etwas Schönes über das Menschsein gesagt. So einfach. Darum geht es, weisst du?»


Schriftsteller, Nicht-Schiftsteller: Unbedingt Carrière lesen! Man lernt dabei so vieles über sich, die andern, das Menschsein, über die Auseinandersetzung mit der Welt und den Sinn des Lebens, über Wahrheit und Aufrichtigkeit, über das Ich als Person und Maske und über das Ich als nacktes Selbst.

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