Tantalos war ein mächtiger und unermesslich reicher lydischer oder phrygischer König. Er wurde an die Tafel der Götter zum Essen geladen, stahl jedoch Nektar und Ambrosia von ihnen, was seine Gastgeber erzürnte. Zusätzlich verbarg der Sterbliche einen goldenen Hund in seinem Haus, den er aus einem Zeustempel gestohlen hatte. Als die unsterblichen Götter zu einem Gastmahl des Königs Tantalos kamen, versuchte er, ihre Allwissenheit auf die Probe zu stellen: Er tötete Pelops, seinen jüngsten Sohn, und liess ihn den Göttern als Mahl servieren, jedoch so, dass sie seine Tat nicht erkennen sollten. Zwar verzehrte Demeter, verzweifelt über den Raub der Persephone, einen Teil der Schulter, doch die anderen Götter bemerkten die Gräueltat sofort. Sie warfen die Stücke des getöteten Pelops in einen Kessel, und die Moire Klotho zog ihn in bekannter Schönheit hervor. Der verzehrte Schulterknochen wurde von den Göttern durch einen aus Elfenbein ersetzt.
Die Götter verstiessen Tantalos in den Tartaros und peinigten ihn dort mit ewigen Qualen, den sprichwörtlich gewordenen «Tantalosqualen». Homer schildert dies in der Odyssee wie folgt:
«Mitten im Teiche stand er, das Kinn von der Welle bespület,
Lechzte hinab vor Durst, und konnte zum Trinken nicht kommen.
Denn so oft sich der Greis bückte, die Zunge zu kühlen,
Schwand das versiegende Wasser hinweg, und rings um die Füsse
Zeigte sich schwarzer Sand, getrocknet vom feindlichen Dämon.
Fruchtbare Bäume neigten um seine Scheitel die Zweige,
Voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven,
Oder voll süsser Feigen und rötlichgesprenkelter Äpfel.
Aber sobald sich der Greis aufreckte, die Früchte zu pflücken,
Wirbelte plötzlich der Sturm sie empor zu den schattigen Wolken.»
Soweit die griechische Mythologie in einer Kürzestzusammenfassung. Wir alle sind Tantalos insofern, als die Früchte, die wir ersehnen, auch für uns (fast) immer zu hoch hängen, ausser in jenen perfekten Momenten, die uns sehr selten einmal geschenkt werden: in einem beglückenden Liebesmoment, im Rausch der totalen Erfüllung unseres sinnlichen Verlangens, allein in einer duftenden Wiese am ersten richtig warmen Frühlingstag des Jahres, auf einem Felsen liegend, mitten in der Sahara, und in den unermesslichen und Unendlichkeit vermittelnden Novembersternenhimmel schauend mit seinen Abermilliarden funkelnder Sterne, am nächtlichen Strand in einer fröhlichen Tafelrunde vereint, mit dem köstlichen Geruch von gegrilltem Fisch in der Nase, umschmeichelt von einer zugleich warmen und erfrischenden samtenen Brise und schon etwas angeheitert von den ersten Cocktails des Abends…
Da hat wohl jeder Tantalos und jede Tantala (man verzeihe mir diese weibliche, der Gendergerechtigkeit geschuldete Verballhornung) seine/ihre eigenen Erinnerungen. Doch wie gesagt, solche Momente sind rar und sehr vergänglich, meistens bleiben unsere Erlebnisse hinter unseren Erwartungen weit zurück und hinterlassen in uns ein schales Gefühl der Enttäuschung. Die alltägliche Liebe wird mit tausenden kleineren und grösserem Kompromissen verdient, Sex ist, unterminiert durch Versagensängste, uneingestandene und ungestandene Wünsche und Fantasien oder schlicht durch das zunehmende Alter oder zunehmende Müdigkeit, mit der wir uns durchs Leben schleppen, unser Gemeinschaftsgefühl unterwandert durch Kommunikationsprobleme, Missverständnisse und unerfüllte Ansprüche, die Witze der anderen sind nicht lustig und die eigenen auch nicht, die Reisen, die wir unternehmen, sind oft eher anstrengend als belebend und inspirierend, das Wetter spielt uns einen Streich und unsere Gesundheit macht einen Strich durch unsere Rechnung – kurz, die Früchte hängen uns meistens zu hoch und das Wasser weicht vor unseren trockenspröden Lippen zurück und was bleibt, ist unbefriedigbarer Durst. Davon spricht nicht nur unsere Erfahrung, sondern auch fast immer die Literatur – oder die Kunst überhaupt.
Ich glaube, dass aus diesem unbefriedigbaren Durst heraus die Religion geboren wurde, unser Bedürfnis nach dem Absoluten. Wenn schon nicht im Erleben, so erhoffen wir uns im Metaphysischen eine Aufhebung des Kreislaufs aus Erwartung und Enttäuschung. Die Suche nach dem Absoluten ist eine Sucht. Der Süchtige sucht ja auch immer, getrieben durch den Wiederholungszwang, der sich in sein Hirn eingegraben hat, nach der ultimativen Sättigung seines Hungers und seines Dursts, wenn auch vergeblich – aber nicht ganz so vergeblich, dass er es nicht stets von Neuem versuchen würde. Auch der Hunger und der Durst nach Gott ist letztlich nichts anderes als die Suche nach der Erlösung von den Qualen des Tantalus. Was tat und tut der Mensch nicht alles dafür: Er geisselt sich, er lebt nackt und ohne Nahrung in der Wüste, verbrennt Hexen und zieht in heilige Kriege und jagt sich und andere, Sprengstoffgürtel vor den Bauch geschnallt, in die Luft. Selbst in den allerschwärzesten Taten, den allerbösesten Bosheiten ist noch jener Hunger, ist noch jener Durst nach dem Absoluten erkennbar, jene Sehnsucht nach Erlösung von den Qualen des Tantalus.
Solche Qualen kann ich bei unseren Mitlebewesen nicht erkennen. Nur der Mensch scheint zu ihnen fähig, zu ihnen verdammt zu sein – dank unseres Vorstellungsvermögens, das uns einerseits Macht, anderseits Ohnmacht verliehen hat und verleiht.