Christian Urech
In den Bergen (Fortsetzung)
Wir verbrachten danach viel Zeit miteinander. Es war nichts Erotisches zwischen uns; vielmehr begann eine tiefe Freundschaft zwischen uns zu entstehen. Wir reisten kreuz und quer durch Indonesien und liessen uns schliesslich im Süden der Insel Lombok nieder, wo wir einen einfachen Bungalow ohne jeden Komfort mieteten. Wir erzählten uns unsere Geschichten, und Mala erläuterte mir ihren Plan mit der Felsenarena. Wir arbeiteten konzentriert an einem Konzept zur Umsetzung dieses Projekt, das heisst, Mala entwickelte das Konzept und ich diente ihr als Sparring-Partner und Assistent; ich hatte ja keine Ahnung von Architektur und Pädagogik und man konnte mich getrost als ungebildet bezeichnen. Gerade das aber machte mich für Mala so wertvoll; sie musste mir das Projekt «verkaufen», das heisst, es so erklären, dass ich es verstand und nachvollziehen konnte. Ausserdem stellte sie mir eine Liste von Büchern zusammen, die ich lesen sollte, was ich auch begierig tat; damals auf Lombok entdeckte ich meine Leidenschaft für Literatur oder überhaupt für das geschriebene Wort. Die Liste enthielt Bücher der Weltliteratur ebenso wie zeitgenössische Belletristik, aber auch Sachbücher aus den Bereichen der Geschichte, der Philosophie und der Soziologie. Wenn ich ein Werk gelesen hatte, diskutierten wir stundenlang über seinen Inhalt; dadurch lernte ich eine Menge, saugte mich mit Wissen voll wie ein trockener Schwamm.
Ich erfuhr, dass Mala eine weltberühmte Architektin war, aber auch eine bedeutende Malerin, die überdies ein Studium in Politwissenschaften und Philosophie abgeschlossen hatte. Sie erzählte mir, dass sie vom Sultan von Brunei, einem der reichsten Männer der Welt, den Auftrag erhalten habe, diesem einen 2000-Zimmer-Palast zu bauen (die Tochter einer Freundin von ihr, eine halbe Schweizerin, ist mit dem Sohn des Sultans, dem Kronprinzen, verheiratet). Im Verlauf dieser Zusammenarbeit sei es der Meisterin gelungen, dem Sultan klarzumachen, dass er mit seinem Reichtum und seiner Macht eigentlich nichts gewinne, denn niemand könne 2000 Zimmer eines Palastes benutzen oder 7000 Luxusautos fahren und das als Lustgewinn verbuchen. Das wiederhole sich vielmehr und werde sehr, sehr langweilig. Auch mache es einen nur gradweisen, aber nicht prinzipiellen Unterschied, ob man auf den Boden oder in ein goldenes WC scheisse. Das wisse der Sultan, der ja die besten Schulen besucht habe, eigentlich auch, aber er sei in den Konventionen seiner Klasse gefangen. Wobei, Macht – politische Macht – habe der Sultan von Brunei ja eigentlich nicht. Er habe jedenfalls nicht genug Macht, um im Lauf der Geschichte eine Spur zu hinterlassen. Und das sei sein heimlicher Ehrgeiz gewesen oder Mala sei es gelungen, diesen Ehrgeiz in ihm zu wecken.
Sie habe ihn davon überzeugen können, dass er sich selbst ein Denkmal setzen könne, wenn er die Idee der Akademie der Felsenarena unterstütze und finanziere; damit könne er sehr wohl einen bedeutenden Beitrag zur Menschheitsgeschichte leisten, vielleicht sogar den entscheidenden Beitrag seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte überhaupt. Denn, so habe die Meisterin dem Sultan erklärt, die Zeit des Strebens nach Macht und Besitz sei dabei, endgültig zu Ende zu gehen. Im Verlauf des 21. Jahrhunderts werde es je länger, je mehr nur noch darum gehen, das Überleben der menschlichen Spezies zu sichern – eine wahrhaft heroische Aufgabe. Denn so, wie sich die historische Entwicklung momentan präsentiere, sei die Menschheit dabei, kollektiven Selbstmord zu begehen. Das liege einerseits an komplett unfähigen Führern in Wirtschaft und Politik, die den Paradigmenwechsel noch nicht vollzogen hätten, und andererseits an der grossen Mehrheit der Menschheit, die durch das herrschende Dogma von Macht und Besitz zwangsläufig in eine immer extremere Verdummung hineingezwungen werde. Aus diesem Grund, habe die Meisterin vor dem Scheich ausgeführt, sei es zwingend notwenig, eine neue Elite – und zwar in jedem Bereich: der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik, der Kunst – zu schaffen: einer Elite eben, für die nicht Besitz und Machterhalt zähle, sondern die Rettung der menschlichen Spezies. Und die sei nur zu retten, wenn auch der ganze Rest (Fauna, Flora, Klima etc.) gerettet werden könne. Wenn Meere über die Ufer träten, fruchtbare Landstriche verödeten, riesige Küstenstädte von der Landkarte verschwänden, Wasser ein defizitäres Gut werde und das Leben auf der Erde zu einem furchtbaren Überlebenskampf, spielten Statusüberlegungen nur noch für absolut verrückte und deshalb dem Untergang geweihten Despoten eine Rolle.
Der Sultan von Brunei habe sich das erst überlegen müssen; aber ja doch, habe er schliesslich verlauten lassen, er möchte zum Retter der Menschheit werden. Und er könne dann noch ein paar andere Königshäuser, superreiche Unternehmer, die Bill Gates-Stiftung etc. dazu bringen, Geld einzuschiessen.
Nach gut einem Jahr auf Lombok war das Projekt in den Grundzügen abgeschlossen. Der Sultan von Brunei kaufte vom malaysischen Staat die Rechte ab, in einem Berggebiet im benachbarten Bundesstaat Sarawak die Anlage zu bauen und zu betreiben.
Es braucht genau sechs Jahre, bis das Projekt abgeschlossen wird. Und nun beginnt die Rekrutierung und Ausbildung der zukünftigen Eliten, die so gar nichts mit der bisherigen Bildung von Eliten zu tun hat. Die Ausbildung verläuft zweiteilig: Im Theorieteil werden die Kandidaten vor allem mit philosophisch-ethischem, geschichtlichem, kulturellem, spirituellem, naturwissenschaftlichem, psychologischem und neuronalem Wissen konfrontiert (und mit der gebührenden Distanz auch mit wirtschaftswissenschaftlichen Theorien), es wird aber auch mit Meditation und halluzinogenen Drogen experimentiert, im praktischen Teil dagegen bekommt das Ganze eine existentielle Tiefendimension: Ganz abgestimmt auf den individuellen Einzelfall werden die zukünftigen Leader beiden Geschlechts in ein einjähriges Praktikum gesteckt. Der eine wird für ein Jahr in ein absolut alltägliches thailändisches Kloster gesteckt, ein anderer zum Rikshafahrer in Klakutta verdonnert, wieder andere als Bettler oder Strassendiebe auf die Piste geschickt, andere arbeiten vielleicht einfach in einer Putzkolonne, in einem Supermarkt, einem Spital oder einem Bordell. Entscheidend ist, dass die Kandidaten am Schluss der Jury ein Schlussmanuskript vorlegen müssen, das durch Sachkenntnis, philosophische Tiefe, grosse Menschenkenntnis und literarische Qualitäten absolut besticht. Mittelmass wird keinesfalls toleriert. Entspricht der Schlussbericht nicht dem Geschmack der Jury, müssen (oder dürfen) die Kandidatinnen und Kandidaten die Mühsal – die Chance – eines weiteren Praktikumsjahrs auf sich nehmen, bis ihre Auswertungen den Ansprüchen der Jury genügen.
Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich das alles aufschreibe, und wer der Adressat, also «du» ist. Die Wahrheit ist, ich schreibe das gar nicht auf. Ich erinnere mich bloss. Das heisst, ich glaube nicht, dass ich das aufschreibe, auch wenn es sich mitunter so anfühlt. Ich bilde mir ein, dass ich an einem alten Kirschbaumholztisch sitze und diese Zeilen in den Computer tippe, weiss aber anderseits, dass das gar nicht möglich ist, denn ich liege ja in einem Spitalbett, völlig unfähig, mich zu bewegen, und höre meistens alte Rocksongs. Auch wenn ich schreibe, höre ich Musik, also auch, wenn ich an meinem alten Kirschbaumholztisch sitze, ein Glas Rotwein nach dem andern trinke und in die Tasten haue mit meinen zwei Zeigefingern. Aber eben, das ist gar nicht möglich, weil ich ja gelähmt bin seit dem Erdbeben, das die Felsenarena zerstört und mich in den Abgrund gerissen hat, was ich, so unwahrscheinlich mir das selbst erscheint, überlebt habe. Auch das Du meiner Geschichte ist ein fiktives Du, denn alle, die ich gekannt habe, sind ebenfalls tot oder haben vielleicht auch gar nie existiert. Woher soll ich das wissen? Jegliche Realität scheint lediglich in meinem Hirn zu existieren. Ich bin mir dessen bewusst, ich bin nicht verrückt. Leider, würde ich fast sagen. Ohne die Brechung meines Bewusstseins zu leben, schiene mir viel einfacher. Dann wäre das, an was ich mich erinnere oder was ich mir zusammenfantasiere, einfach ein Traum, in dem ich völlig aufgehe. Dadurch, dass ich es aufschreibe, wenn auch vielleicht nur in der Phantasie, bekommt die Geschichte den Anschein echter Realität.
Pink Floyd: Keep Talking
For millions of years mankind lived just like the animals
Then something happened which unleashed the power of our imagination
We learned to talk (Stephen Hawkings)
There's a silence surrounding me
I can't seem to think straight
I'll sit in the corner
No one can bother me
I think I should speak now (Why won't you talk to me)
I can't seem to speak now (You never talk to me)
My words won't come out right (What are you thinking)
I feel like I'm drowning (What are you feeling)
I'm feeling weak now (Why won't you talk to me)
But I can't show my weakness (You never talk to me)
I sometimes wonder (What are you thinking)
Where do we go from here (What are you feeling)3
It doesn't have to be like this
All we need to do is
Make sure we keep talking
(Why won't you talk to me) I feel like I'm drowning
(You never talk to me) You know I can't breathe now
(What are you thinking) We're going nowhere
(What are you feeling) We're going nowhere
(Why won't you talk to me)
(You never talk to me)
(What are you thinking)
(Where do we go from here)
It doesn't have to be like this
All we need to do is
Make sure we keep talking
Über Millionen von Jahren hat die Menschheit wie Tiere gelebt
Dann ist irgendetwas passiert, das unsere Vorstellungskraft entzügelt hat
Wir lernten zu sprechen
Eine Stille umgibt mich
Ich kann nicht recht denken
Ich sitz in der Ecke
Und nichts kann mich stören
Ich glaub ich muss jetzt sprechen (Warum redest du nicht mit mir?)
Ich kann gerade irgendwie nicht sprechen (Nie redest du mit mir)
Meine Worte wollen nicht richtig rauskommen (Was denkst du gerade?)
Mir ist, als würde ich ertrinken (Was fühlst du gerade?)
Ich fühle mich schwach (Warum redest du nicht mit mir?)
Ich darf das nicht zeigen (Nie redest du mit mir)
Manchmal frage ich mich (Was denkst du gerade?)
Wohin führt uns der Weg? (Was fühlst du gerade?)
Es müsste nicht so sein
Mir müssen nur zusehen, dass wir weitersprechen
(Warum redest du nicht mit mir?) Mir ist, als würde ich ertrinken
(Nie redest du mit mir) Du weisst, ich kann nicht atmen
(Was denkst du gerade?) Das führt uns nirgendwo hin
(Was fühlst du gerade?) Wir reisen nach Nirgendwo
(Warum redest du nicht mit mir?)
(Nie redest du mit mir)
(Was denkst du gerade?)
(Wohin führt uns der Weg?)
Es müsste nicht so sein
Wir müssen nur dafür sorgen, dass wir weitersprechen
Seit sieben Jahren bin ich Lehrer am Institut in der Felsenarena. Ich unterrichte das Fach «Kommunikation und Kreativität» in sieben Klassen mit je zwölf Schülern. Die Schüler sind im Alter zwischen 16 und 25 Jahren und kommen aus allen Ländern der Welt. Die Gestaltung des Unterrichts ist, wie gesagt, ganz mir überlassen. Was will ich meinen Schülern also beibringen? Ich bin kein Besserwisser, das heisst, ich bin schon ein Besserwisser, aber ich glaube eigentlich nicht daran, was ich weiss. Sokrates, der einer meiner Lehrer ist, hat gesagt, dass er weiss, dass er nichts weiss. Vielleicht sollte man das ernst nehmen, auch wenn Sokrates schon seit einiger Zeit nicht mehr lebt. Sokrates war von seinem Wissen vom Nichtwissen erfüllt, ich bin von meinem Nichtwissen vom Wissen – besessen? Nein, ich bin leider nicht besessen, sondern eher verlassen von meiner Kompetenz. Vielleicht hat Mala mich deshalb als Lehrer auserwählt, weil ich so absolut von meiner Inkompetenz überzeugt bin. Ich lehre meine Schüler vor allem den Zweifel – den Zweifel an allem und jedem. Ich sage ihnen: Ihr seid wie die Ameisen. Ihr funktioniert aufgrund eurer Programmierung – aber ihr habt keine Ahnung von dem Stiefel des Menschen, der in euren Ameisenhaufen tritt. Letztlich bemühe ich mich also darum, meine Schüler, Bescheidenheit und Demut zu lehren – und den Glauben an Wunder. Ich verführe sie dazu, in die Ahnungslosigkeit zu gleiten – unser aller natürliches Element. Es gibt kein Wissen, nur den Anschein der Wissenschaftlichkeit, der gewiss ein Recht hat, zu existieren. Wissenschaftlichkeit ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den wir uns einigen können, aber auch der grösste mögliche Irrtum.
Was tun wir im Unterricht? Wir lesen, wir schreiben, wir hören Musik, wir spielen Theater, wir kommunizieren mit Worten, aber auch nonverbal, wir diskutieren über Gott und die Welt und beobachten, was dabei mit uns geschieht. In unseren Köpfen, aber auch unseren Körpern. Wir lesen keine Sachbücher, sondern Romane, oftmals englischsprachige, da alle Schüler Englisch sprechen und Englisch auch die Unterrichtssprache ist, aber wir beziehen die anderen Sprachen mit ein. Da die jungen Männer alle über einen ausserordentlich gut gefüllten Bildungsrucksack verfügen – einen weit grösseren Bildungsrucksack als ich, aber ich bin am Aufholen – , sprechen die meisten von ihnen mehrere Sprachen, vier oder fünf oder auch acht oder zehn, was die Kommunikation reizvoller, aber auch komplizierter macht. Wir lesen also Romane, manchmal auch Novellen, Kurzgeschichten oder Gedichte, und versuchen, den grösstmöglichen Erkenntnisgewinn daraus zu ziehen – intellektuell, aber ebenso auf der Gefühlsebene und auf einem gewissermassen existenziellen Niveau. Es geht um Inhalt und Form, aber wir analysieren die Texte nicht wie in einem linguistischen Seminar quasi von aussen, als unbeteiligte Dritte, sondern versuchen zu ergründen, was sie mit uns ganz persönlich machen. Wir bringen unsere Subjektivität immer mit ein. Literatur variiert immer die gleichen paar Themen, Liebe, Tod, Sinn, Gerechtigkeit, Identität, das Verhältnis zwischen Individuum und Welt, das Verhältnis zwischen Vernunft und Empfindsamkeit, das Spannungsfeld zwischen Vertrauen und Verrat, zwischen Schuld und Sühne, zwischen Hilflosigkeit und Macht. Literatur ist Philosophie mit anderen Mitteln. Indem wir uns in sie hinein plumpsen lassen, finden wir keine Lösungen, keine pfannenfertigen Antworten, keine Rezepte, eher Ahnungen als Gewissheiten, eher verschlungene als gerade Wege, eher Erkenntnisse als Resultate. Die Wahrheit ist ja nicht etwas, das sich in Worte fassen liesse, letztlich entwindet sie sich uns wie ein glitschiger Wurm.
Wir lesen nicht nur, wir schreiben auch in meinen Lektionen. Keine Aufsätze, sondern vor allem Geschichten. Wir üben ebenfalls die Debatte, die dialektische Erörterung, aber auf einem spielerischen Niveau, indem wir die Positionen, die wir vertreten, wechseln, und auf diese Weise lernen, um die Ecke zu denken. Wir stellen uns Situationen vor und spielen sie durch, in denen wir uns vor existentielle Herausforderungen gestellt sehen und Entscheide treffen müssen, die uns in einen Zwiespalt bringen.