Christian Urech
In den Bergen (2)

Ich heisse Max. Das ist, finde ich, ein perfekter Name. Drei Buchstaben, ein Effekt, ein Knall, eine Explosion. Ich habe mich immer als Max gefühlt. Ich weiss nicht, wer mir diesen Namen gegeben hat, denn ich kenne meine Eltern nicht. Ich weiss nichts vom Ursprung meiner Existenz, aber das ist mir egal. Gut möglich, dass ich in der Retorte gezeugt wurde. Aber ich weiss, wem ich alles verdanke, was ich bin.
Die Leiterin des Instituts ist eine sehr kluge, sehr charismatische Persönlichkeit, die das Menschliche, wie wir es gemeinhin kennen, weit hinter sich gelassen hat. Das Menschsein ist ja nicht gerade etwas, was man sich wünscht. Menschen sind sehr destruktiv. Nicht per se, aber sobald die Umstände es zulassen, verwandeln sie sich in Bestien. Kein Lebewesen würde es sich wünschen, sich als Mensch auf dieser Welt zu inkarnieren. Kein Baum, sagt die inkarnierte Weise, würde mit einem Menschen tauschen wollen. Und auch nicht ein Tier, nicht mal eine Stubenfliege oder eine Zecke. Nicht mal eine Kuh, obwohl die Angehörigen dieser Spezies weiss Gott nicht viel Gutes zu muhen haben. Der Mensch, dieses Arschloch, tadelt die Kühe sogar für ihr Furzen.
Dabei furzen die Menschen doch auch. Aber eben, das ist die Zwei- oder Drei- oder Zehnklassengesellschaft. Die oben dürfen ungestraft furzen, die Sklaven nicht.
Wie gesagt, ich, Max, der ich auf diesen Namen wenn schon nicht stolz bin, ihn aber doch mit Würde trage, weiss nicht, wer meine Eltern sind. Meine Hautfarbe ist braun, ich habe ein indisch-asiatisches Aussehen, aber aufgewachsen bin ich in der Schweiz. Meine Eltern gehören – oder gehörten, denn sowohl meine Adoptivmutter als auch mein Adoptivvatern sind schon seit längerem tot – der oberen Mittelschicht an. Mein Vater war ein Professor an der ETH, der Eidgenössisch-Technischen Hochschule Zürich, meine Mutter, ursprünglich Primarlehrerin, gab ihre Berufstätigkeit aber augenblicklich auf, nachdem sie meinen Vater – meinen Adoptivvater – geheiratet hatte. Sie waren schon relativ alt, als sie mich adoptierten. Irgendwie hatten sie das Gefühl, dass ein Kind zu einer einigermassen abgerundeten Biographie einfach dazugehört. Ich wuchs also als farbiges Kind am noblen Zürichberg auf, in einem Haus, das man auch als Villa hätte bezeichnen können, das aber von meinen Adoptivelter niemals als solche benannt worden wäre – schliesslich gab man etwas auf die Liberalität, die man sich als alte Achtundsechziger auf die Fahne geschrieben hatte. Wobei meine Eltern – Adoptiveltern – alles andere als Hippies waren. Mein Vater war Physiker - ein Gebiet, für das ich mich nie im Geringsten interessierte, obwohl es sich mir problemlos erschloss – und meine Mutter eine überzeugte Anthroposophin. Rudolf Steiner war ihr Guru. Sie duldete keine Kritik an seinen Theorien. Kartoffeln machen dumm, davon war sie überzeugt. Deshalb habe ich in meiner Kindheit nie Kartoffeln zu essen bekommen. Was nicht tragisch ist, denn ich konnte Kartoffeln nie leiden – kann sie auch heute noch kaum herunterwürgen, wenn es denn sein muss, und in der Schweiz muss es zwangsläufig fast dauernd sein. Rösti, Raclette mit Kartoffeln, Kartoffelstock mit Seelein, das gehört doch genuin zum Schweizer Kulturgut. Der Physikprofessor, mein Vater, hätte zwar gern Kartoffeln gegessen, aber er wagte es nicht, seiner Frau ein Widerwort zu geben. Er war in der Tat ein Höseler. Ein Höseler, das ist Schweizerdeutsch und heisst so viel wie ein Angsthase, ein Duckmäuser, ein Leisetreter, und, in Beziehung zu seiner Frau, ein Pantoffelheld.
Das alles war mir als Kind egal. Ich litt nicht unter meinen Eltern. Ich dachte, Eltern sind sowieso verrückt, also können auch die meinen verrückt sein. Ich war ein superintelligentes Kind. Die Schule war langweilig. Was sie mir dort beizubringen versuchten, wusste ich schon lange. Ich gab mit keine Mühe und schrieb dauernd schlechte Noten. Ich schrieb absichtlich die falschen Antworten hin. Dass ich braun war und nicht wie die anderen, erfüllte mich mit Stolz. Ich wollte immer anders sein als die anderen. Man muss wissen, dass es damals kaum braune oder schwarze oder exotische Kinder in Schweizer Schulklassen gab, und schon gar keine übermässig arroganten braunen und schwarzen Kinder wie mich. Meine Einzigartigkeit war demnach ein Privileg. Gewiss, ich wurde bis aufs Blut geplagt wegen meiner Andersartigkeit, aber das machte mich eher froh. Wenigstens manchmal, und immer mit einem Anflug von Trotz. Ich war imstande, die Kinder, die mich verachteten, meinerseits zu verachten. Wenn sie mich schlugen, schlug ich zurück. Und wenn ich dafür von den Erwachsenen bestraft wurde, streckte ich ihnen die Zunge heraus.