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  • AutorenbildChristian Urech

In den Bergen


Ich habe schon lange nichts mehr in diesem Blog veröffentlicht. Aber jetzt habe ich begonnen, einen neuen Roman zu schreiben. Den Beginn des Romans habe ich schon vor langer Zeit verfasst, das Ende auch. Und in meinen diesjährigen Ferien in Indonesien habe ich begonnen, an diesem Roman weiterzuwerkeln. Gewissermassen, um mich zu zwingen, daran weiterzuschreiten, veröffentliche ich hier Teile davon.

Meistens hörte er Musik. Er liebte vor allem die Klänge der elektrischen Gitarre, hörte zu, wie sie wimmerten, schmeichelten, jubilierten, klagten, triumphierten, heulten, drohten und dann in die Stille verzitterten. Manchmal hörte er auch Stimmen, oft ganz nah an seinem Ohr, dann wieder weiter weg im Raum, Türen, die behutsam oder auch energisch geöffnet und geschlossen wurden. Eine Alarmglocke, die in der Ferne auf- und unterging. Gedämpfte Schritte auf dem Linoleum. Es war faszinierend, was man alles aus gedämpften Schritten auf Linoleum heraushören konnte. Die Stimmen sprachen Hochdeutsch, Schweizerdeutsch, Spanisch, Portugiesisch, Serbisch, Tagalog. Er konnte problemlos verstehen, was die Stimmen sagten, worüber er etwas erstaunt war, denn er hatte seines Wissens weder Serbisch noch Tagalog jemals gelernt. «Der arme Mann!», sagte zum Beispiel eine weibliche Stimme auf Tagalog. «Er kann einfach nicht sterben!» – «Ja, der hat wirklich Glück gehabt – ein Glück, das sich als riesengrosses Pech erwiesen hat», – eine männliche Stimme, ebenfalls auf Tagalog, dann ein glucksendes kleines Lachen – «das heisst, eigentlich hat er ja immer noch Pech.» – «Ach komm!», die weibliche Stimme, vorwurfsvoll, «mach dich nicht auch noch lustig über ihn!» Und dann, beinahe flüsternd:«Das gibt schlechtes Karma.» Und so weiter. Die Stimmen waren dann schnell wieder weg. Meistens hörte er, wie gesagt, sowieso lieber Musik.

Wahrscheinlich verdanken wir die Felsenarena einem Vulkanausbruch. Tief unten leuchtet dunkelblau ein Bergsee. Die Felsenarena – weiss der Teufel, warum wir sie so nennen – umschliesst den See auf drei Seiten, bildet einen Dreiviertelkreis. Dort, wo der Kreis sich öffnet, ist auf einem erheblich tieferen Höhenniveau das satte Grün des tropischen Urwalds zu erahnen. Das Institut ist etwa zweihundert Meter unterhalb des Grates in den Fels hineingebaut. Von aussen ist es kaum wahrzunehmen; wenn man weiss, worum es sich handelt, kann man Fensterlöcher erahnen und ergeben die rampenartigen Einbuchtungen einen Sinn. Sei es durch Zufall, sei es gewollt – das Institut ist perfekt getarnt. Niemand würde annehmen, dass es gegen tausend Zöglinge und über zweihundert Lehrkräfte beherbergt (und dann noch eine unbekannte Zahl von Hilfskräften) und neben Hörsälen, Schulzimmern, Trainingsräumen, Turnhallen, Schwimmbädern auch eine gigantische Aula enthält. Der Zugang zum Institut erfolgt auf der anderen, dem Institut abgewandten Seite der Bergkette durch einen Tunnel, der in den Berg hineinführt und keinen Ausgang hat. Die Strasse, die zu diesem Tunnel gehört, mündet in die Empfangshalle, wo ankommende Fahrzeuge, Waren und Güter triagiert werden. Ausserdem befindet sich auf dem Bergkamm oberhalb des Instituts ein Helikopterlandeplatz. Der Bau des Instituts muss Unsummen verschlungen haben.

Hier in der Höhe sind die Temperaturen angenehm. Wann immer ich auf dem Felsvorsprung vor meinem Apartment stehe, auf meinem «Balkon» gewissermassen, bin ich fasziniert und ergriffen von den Schönheit des Rundblicks, den mein Arbeitsplatz mir bietet. Ich bin seit sieben Jahren im Institut als Lehrer tätig. Mein Fach heisst «Kommunikation und Kreativität», und es steht mir ausdrücklich völlig frei, wie ich meine Lektionen gestalten und was ich meinen Studenten beibringen will. Ich schreibe bewusst «Studenten», denn ich unterrichte nur männliche Schüler. Die Leiterin des Instituts hält nichts von Koedukation und hat die Klassen nach Geschlechtern getrennt.

Diese Leiterin ist eine weltbekannte Architektin, die sich aber auch auf anderen Feldern der Kunst hervortut. Vor allem ist sie eine grossartige Malerin. Sie hat das Institut entworfen und mit dem Ziel gegründet, eine Elite zu formen, die die Zukunft der Menschheit, die sich bekanntlich in keinem guten Zustand befindet, sichern soll. Da sie die grosse Mehrheit der Menschen für unfähig hält, sinnvoll zu denken und zu handeln, nimmt sie in ihrem Institut nur jene jungen Menschen auf, die später einmal die Fähigkeiten und die Macht haben werden, wirklich etwas zu bewirken – zukünftige Wirtschaftskapitäne, Wissenschaftlerinnen, Politiker und Künstler. Das erste Hindernis, in die Schule aufgenommen zu werden, ist zunächst einmal das Geld. Nur Familien, die sehr reich sind, können es sich leisten, ihre Töchter und Söhne auf das Institut zu schicken. Nur solche Familien wissen überhaupt von der Existenz des Instituts. Die Leiterin hält nämlich auch nichts von Öffentlichkeitsarbeit. Und übrigens auch nichts von Demokratie. Damit aber nicht genug – die Kandidatinnen und Kandidaten werden überdies einem strengen Assessment unterzogen, bevor sie akzeptiert werden.

Fortsetzung folgt


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